Die Gefährdungsbeurteilung insbesondere unter Berücksichtigung psychischer Belastungen bei der Arbeit
Vorbemerkung
Der Artikel soll keine wissenschaftliche Abhandlung über das Thema Gefährdungsbeurteilung sein, sondern eine praxisbezogene Hilfe für alle Unternehmer und Personen, die sich mit Gefährdungsbeurteilungen beschäftigen (müssen) und vielleicht erstmals mit dem Thema „psychische Belastungen und Gefährdungen“ konfrontiert sind. Es soll auch die „Angst“ vor dem Thema genommen werden – Mut machen und ein Plädoyer sein, sich damit zu beschäftigen.
Sowohl die ab 2002 geltende „alte“ als auch die seit Juni 2015 geltende neue Betriebssicherheitsverordnung – BetrSichV sowie das Arbeitsschutzgesetz - ArbSchG
fordern vom Unternehmer/Arbeitgeber die Ermittlung und Beurteilung der Arbeitsbedingungen aus vielfältiger Sicht – so physikalische, chemische, biologische und psychische Komponenten.
Trotzdem hat man vielfach den Eindruck, dass sich diese Verpflichtung noch nicht flächendeckend durchgesetzt hat bzw. diese von den Firmen noch nicht verinnerlicht wird.
Der Fairness halber muss man aber sagen, dass sowohl Firmen als auch Behörden Arbeitsplätze sehr wohl einer „Beurteilung“ unterziehen – wenn sie diese auch nicht konkret „Gefährdungsbeurteilung nennen, obwohl es de facto eine solche ist.
Gerade der Gesichtspunkt der Beurteilung „psychischer“ Gegebenheiten und Belastungen bei der Arbeit fällt von der Ermittlung über die Feststellung bis hin zu einer wirksamen Umsetzung vielfach schwer, sodass selbst Firmen oder Behörden, die guten Willens sind, eine solche Gefährdungsbeurteilung vornehmen zu wollen, irgendwo auf halbem Wege stehen bleiben oder scheitern.
Hierbei muss zunächst immer im Auge behalten werden, dass etwas „Machbares“ dabei herauskommen muss und die Vorgaben, die sich ein Unternehmer setzt, nicht schon von Beginn an „zu hoch gehangen“ werden, sodass ein Scheitern geradezu vorprogrammiert ist. Deshalb lieber in kleinen Schritten herantasten und einen zunächst überschaubaren (Zwischen)Erfolg erzielen, als sehenden Auges an unrealistischen Zielen und Vorgaben scheitern. Das hätte übrigens auch den bitteren Beigeschmack, dass man sich zukünftig an dieses Thema lieber gar nicht mehr heranwagt. Damit tut man dem Arbeits- und Gesundheitsschutz erst recht keinen Gefallen.
Zunächst muss die Frage gestattet sein, warum sich ein Unternehmer das antun muss, eine solche Beurteilung vornehmen zu müssen.
Antwort: Weil man es rechtlich von ihm fordert. Grundlage ist in erster Linie das ArbSchG, aber auch die bereits erwähnte BetrSichV – gerade auch im Zusammenhang mit vom Unternehmer eingesetzten Arbeitsmitteln.
Der Arbeitsschutz ist eine wesentliche „Neben“pflicht des Arbeitsvertrages für den Arbeitgeber, resultierend aus seiner Fürsorge- und Schutzpflicht, die er gegenüber seinen Mitarbeitern hat. So kennen auch andere Vorschriften Schutzgesichtspunkte, z. B. bezogen auf bestimmte Personenkreise wie Jugendliche (JArbSchG), Schwangere (MuSchG) oder Behinderte (SchwbG), aber auch bezogen auf bestimmte Arbeiten, wie z. B. am Bildschirm (BildscharbV), im Umgang mit Lärm (LärmVibrationsArbSchV) oder im Umgang mit Gefahrstoffen (GefStoffV), um nur exemplarisch einige wenige zu nennen.
Der Arbeitgeber denkt jedoch zu kurz, wenn er Arbeitsschutz nur als (von ihm geforderte rechtliche) Verpflichtung, die er gegenüber seinen Mitarbeitern wahrnehmen muss, sieht – quasi als notwendiges Übel, das zudem auch noch mit Aufwand (z. B. Abstellen von Personal/Sicherheitsbeauftragter oder Fachkraft für Arbeitssicherheit – FaSi) und Kosten verbunden ist (z. B. Anschaffung von PSA). Er denkt deshalb zu kurz, weil Arbeitsschutz und insbesondere die Ermittlung, Beurteilung und Umsetzung „guter“ Arbeitsbedingungen letztendlich im Ergebnis ihm selbst und seinem Unternehmen zugutekommt. Denn: Denkt man rein pekuniär, so kommen letztendlich die „Früchte der Arbeit“ ihm zugute.
Also! Gesagt – getan.
Am Anfang steht das Ermitteln von Gefährdungen – und zwar bezogen auf Arbeitsbereiche und Tätigkeiten. Das beinhaltet bereits die erste Schwierigkeit:
Welche Bereiche und welche Tätigkeiten unterliegen einer möglichen Gleichbehandlung und welche nicht? – Hier dürfen nicht Äpfel mit Birnen verwechselt bzw. in einen Topf geworfen werden.
Die aus den ermittelten Bereichen und Tätigkeiten hervorgegangenen Gefährdungen sind sodann bezüglich der „Schwere“ ihrer Gefährdung (von gering bis hoch) einer Bewertung zu unterziehen und sodann durch konkrete (Arbeitsschutz)Maßnahmen zu minimieren.
Letztendlich – und nur so kann Arbeits- und Gesundheitsschutz nachhaltig funktionieren – gehört auch eine wirksame Kontrolle der beschlossenen und umgesetzten Maßnahmen dazu, sowie eine sorgfältige Dokumentation. Dies ist wichtig – zum einen zur eigenen, zum anderen aber auch zur fremden Kontrolle (z. B. Vorlage nach Aufforderung von Arbeitsschutzbehörden oder BGen). Nicht zuletzt muss ein Unternehmer im schlimmsten Fall/nach einem Arbeitsunfall damit rechnen, dass man von ihm die Vorlage der Gefährdungsbeurteilung einfordert (z. B. die Staatsanwaltschaft).
Wie aber kann ein Unternehmer den Aspekt psychischer Belastung der Arbeit berücksichtigen und was ist „psychische Belastung“ überhaupt?
Darunter versteht man „die Gesamtheit aller erfassbaren Einflüsse, die von außen auf den Menschen zukommen und psychisch auf ihn einwirken“ (nach DIN EN ISO 10075-1).
Unter „psychisch“ verstehen wir emotionale, kognitive und informationsverarbeitende Vorgänge im Menschen – also wie wir geistig, gefühlsmäßig, nervlich, seelisch oder mental Informationen verarbeiten, wahrnehmen, erkennen, denken und lernen (sog. Kognition).
Bezogen auf die Bewertung der Arbeit sind damit die Arbeitsbedingungen gemeint.
Nun ist nicht jede Belastung als „negativ“ einzustufen. Menschen müssen „gefordert“ werden – nicht zuletzt gibt es auch das Krankheitsbild des sog. „Boreouts“, d. h. der körperlichen und geistigen Unterforderung und nicht nur der Überforderung, die dauerhaft vorhanden zu dem bekannten „Burnout“ führen kann.
Auch gibt es erwiesenermaßen den sog. positiven Stress. Er zeigt sich z. B., wenn jemand seine Arbeit gerne macht, sie ihn er- und ausfüllt – auch dann, wenn sie ihn stark beansprucht.
Eine Belastung wird immer dann negativ, wenn sie in den Bereich der Gefährdung über-, d. h. mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen einhergeht – falls sie nicht beseitigt wird.
Bei der Gefahr oder Gefährdung können wir auch von der Vorstufe eines Schadens sprechen. Ein Schaden ist dann gegeben, wenn nachweislich körperlich oder geistig ein Krankheitsbild vorhanden ist, quasi „das Kind in den Brunnen gefallen ist“ – hingegen wir bildlich von einer Gefährdung sprechen, wenn das Kind noch auf dem Brunnenrand balanciert.
Was können nun psychische Belastungen sein, die den Arbeitgeber aufhorchen lassen müssen bzw. sein Handeln verlangen?
Psychische Belastungen bzw. Gefährdungen können sich im Wesentlichen aus dem Arbeitsinhalt/der Arbeitsaufgabe, der Arbeitsorganisation, sozialen Beziehungen oder der Arbeitsumgebung ergeben. Im Einzelnen können dies sein:
- Arbeitsinhalt/-aufgabe
Qualifikation, Verantwortung, emotionale Inanspruchnahme, Handlungsspielraum bei Arbeiten, Vollständigkeit der Aufgabe, Abwechslungsmöglichkeit oder Information bzw. Informationsangebot - Arbeitsorganisation
Arbeitszeit und -ablauf, Zeitdruck, Arbeitsintensität, häufige Störungen oder Arbeitsunterbrechungen - Soziale Beziehungen
zu Kollegen oder Vorgesetzten - Arbeitsumgebung
physikalische, chemische oder physische Faktoren, Einsatz von Arbeitsmitteln, Arbeitsplatzgestaltung oder Einführung neuer Arbeitsformen
(Aufstellung nach „GDA-Checkliste“ der Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie von Bund, Ländern und UVV-Trägern)
Wie aber dieser doch beachtlichen Vielzahl von Faktoren im Arbeitsleben Rechnung tragen?
Das fängt schon mit der Ermittlung der einzelnen Faktoren bezogen auf den jeweiligen Arbeits- und Tätigkeitsbereich an.
„Gut aufgestellt“ ist ein Unternehmen, das durch eine Vielzahl von Mitarbeitern verfügt, die mit offenen Augen und Ohren versehen sind und dadurch ihre Arbeit auch „bewerten“ und nicht lediglich unreflektiert erledigen.
Seitens des Unternehmens lässt sich die Informationsbeschaffung bezüglich psychischer Belastungen und Gefährdungen durch Mitarbeiterbefragungen/ Fragebögen erhöhen. Beides sollte anonym vonstattengehen, um möglichst eine „freie“ Beantwortung gewährleisten zu können. Mitarbeiter sollten nicht durch Nennung ihres Namens in die Versuchung kommen, ihrem Vorgesetzten „nach dem Munde“ zu reden – dann bringt das ganze Procedere nichts.
Die gewonnenen Informationen können dann durch dafür eingesetzten „Gremien“, die mit der Gefährdungsbeurteilung befasst sind, „aufbereitet“ werden. Hierbei sollten die dem Unternehmer zur Seite stehenden Fachkräfte wie FaSi, Sicherheitsbeauftragte, Betriebsärzte oder Betriebsräte mit „ins Boot“ genommen werden.
Eine ganz wesentliche Rolle spielen in diesem Zusammenhang die Sicherheitsbeauftragten. Sie sind die Kollegen, die am nächsten an den Mitarbeitern dran sein sollten – sowohl fachlich (gleichartige Tätigkeit) als auch örtlich (gleicher Arbeitsbereich) und zeitlich (gleiche Arbeitsschicht). Da sie so ausgewählt sein sollten, dass sie nicht unbedingt Weisungsbefugnisse im Betrieb haben sollten, sind sie als „Kollegen unter Kollegen“ erste Ansprechpartner und sollten auch diejenigen sein, die als Erste Schwachstellen im Betrieb erkennen. Sie sollten diejenigen sein, die ihre gewonnenen Informationen und Ergebnisse aus Gesprächen mit den Kollegen in die Gefährdungsbeurteilung – gerade auch psychische Belastungen betreffend – einbringen sollten. Damit ist auch die Gewähr gegeben, dass bei der Bewertung psychischer Belastungen genau die Sachverhalte zugrunde gelegt werden, die sich tatsächlich im Betrieb abspielen und nicht theoretische Abläufe, wie die Arbeiten stattfinden könnten (z. B. durch Vorgesetzte vom Schreibtisch aus beurteilt). Eine derartige Bewertung würde an der Sache vorbeigehen, da ja nicht die „Realität“ abgebildet wird.
Auch bei der Umsetzung der gewonnenen Erkenntnisse in die Gefährdungsbeurteilung sollten die „Arbeitssicherheitsfachleute“ FaSi, Betriebsarzt, Sicherheitsbeauftragter z. B. in Form des Arbeitsschutzausschusses mit hinzugezogen werden. Denn: Warum sollte der Unternehmer bzw. das von ihm eingesetzte Gremium, das mit der Gefährdungsbeurteilung befasst ist, auf deren fachlichen Rat verzichten? Auch gewährleisten diese Personen, dass „Machbares“ umgesetzt wird. Bei der Umsetzung der Maßnahmen sollte vorrangig das „bekämpft“ werden, was am gravierendsten ist bzw. das durchgesetzt werden, was mit geringem Aufwand machbar ist.
1. Beispiel:
Eine Instandhaltungsarbeit, die ständig dadurch unterbrochen werden muss, weil „richtiges“ Werkzeug nicht an Ort und Stelle liegt und dadurch auch psychisch eine Belastung für den Kollegen darstellt, lässt sich durch eine bessere Arbeitsorganisation lösen bzw. Anweisungen, das Werkzeug nach getaner Arbeit wieder an den dafür vorgesehenen Ort zurückzulegen, damit andere Zugriff darauf haben, oder durch Führen von Ausgabelisten, damit festgestellt werden kann, wo sich gerade was befindet.
Geht dann die Arbeit „in einem Rutsch“, ist das auch für die Psyche des Kollegen etwas ganz anderes/Positives.
2. Beispiel:
Ständige Erreichbarkeit durch Handy, Smartphone, Computer – auch in der Freizeit oder im Urlaub führen nachgewiesenermaßen zu gesundheitlichen Belastungen bis hin zu Schäden. Hier kann klar geregelt werden, wann welcher Mitarbeiter erreichbar zu sein hat bzw. durch Festlegung eines Vertretungsplanes, der dann natürlich auch befolgt werden muss (Stichwort „Wirksamkeitskontrolle“ der getroffenen Maßnahmen).
3. Beispiel:
Durch hohes Verkehrsaufkommen in einem innerbetrieblichen Transportbereich mit Lagertechnikgeräten (Hubwagen, Stapler, Mitgänger-Flurförderzeuge) und nicht geregelter Befugnis, wer diese Fahrzeuge fahren darf (sog. Fahraufträge), kommt es immer wieder zu gefährlichen Situationen und Beinaheunfällen. Diese Arbeit wird von den dort Arbeitenden als sehr (negativ) stressig angesehen.
Entschärft werden kann diese Situation durch verschiedene Zeitfenster, in denen eine beschränkte Personenanzahl bestimmte Tätigkeiten mit festgelegten Fahrzeugen vornimmt, zudem mit klar vorgegebenen Fahraufträgen, wer welche Geräte fahren darf. Das macht „entspanntes“ Arbeiten möglich, zudem noch mit höherer Taktzahl als vor der Neuregelung (s. Vorbemerkung – Profit für Arbeitgeber).
Das wichtigste bei allen Versuchen ist aber, die Arbeitsgestaltung im Sinne der Sicherheit und Gesundheit zu optimieren, damit anzufangen, Probleme zu beheben.
Es kann auch vorkommen, dass man feststellt, mit der ein oder anderen Lösung „in eine Sackgasse“ geraten zu sein. Das macht nichts.
Auch wird es immer wieder vorkommen, dass man feststellt, es gibt optimalere Lösungen oder mehrere Alternativen.
Gefährdungsbeurteilungen sind wie das ganze Leben: Ein ständiges Beobachten, Bewerten und Ausführen bzw. Verändern. Es erfordert immer wieder aufs Neue volle Aufmerksamkeit. So sieht dies auch die BetrSichV: „Die Gefährdungsbeurteilung ist regelmäßig zu überprüfen“ (§ 3 Absatz 7). Wenn aber alle zum Wohle der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes an einem Strang ziehen, wird man feststellen, dass es „gelebte“ Arbeitssicherheit ist und auch das befriedigt in hohem Maße bei der Arbeit, und zwar Unternehmer wie Mitarbeiter und stärkt zusätzlich – quasi als Nebeneffekt – auch noch den sozialen Zusammenhalt und die Identifikation mit dem Unternehmen.